Kastanien - vom Madeira bis Sizilien
Korsika:
Kastanienmehl: wird immer noch
handwerklich erzeugt und ist Grundlage für zahlreiche Gerichte. Die
Esskastanie (Marone) hatte früher eine wichtige Rolle in der
Inselwirtschaft. Eine Region Korsika verdankt den Esskastanien Ihren Namen:
die Castagniccia.
Hier die wichtigsten Gerichte und Speisen aus
Kastanienmehl:
Polenta/ Pulenta: traditionelle Besonderheit- aus Kastanienmehl
hergestellter Brei,
Fritelle: aus Kastanienmehl gebackene Krapfen,
Canistrelli: Kastanien-, Mandel-, Anis-, Natur- oder Haselnusskekse
Toskana:
PRÄDIKAT "KASTANIEN-D.O.C."
Vom Brot der armen Leute zum Imageprodukt
Man nehme 250 Gramm Kastanienmehl, löse es in kaltem Wasser zu einem
geschmeidigen Brei, füge drei Eßlöffel Öl, eine Prise Salz, zwei Prisen
Rosmarinblätter und eine Handvoll Pinienkerne hinzu, rühre gut um und lasse
alles eine Stunde ruhen, streiche dann die Mischung in eine flache Ofenform
und backe sie so, daß sie nicht mehr als zwei Zentimeter aufgeht. So
entsteht der Kuchen, den die Italiener "castagnaccio" nennen. Er gilt heute
als zunehmend gefragte Spezialität.
Die Kastanie, heißt es, leitet ihren Namen von Kastanis ab, einem Ort in der
heutigen Türkei. Ihre Küchentauglichkeit beweist sie vor allem in Italien.
Das zeigt sich schon allein in der Sprache. Während deutsche Wörterbücher
gleich zu den gastronomisch uninteressanten Roß- und Edelkastanien
überzugehen pflegen und die eßbaren Varianten hierzulande in mobilen
Fußgängerzonen-Räucherbuden ein klägliches Dasein fristen, unterscheidet man
in Italien an die 70 verschiedene Kastaniensorten. Sechs davon werden heute
für den Verzehr angeboten. Sie tragen Namen wie "roter Bastard", "die
Glitzernden", "weißer Hintern", "Kindlein" oder "die Wilden". Das hat mit
ihrem Aussehen zu tun, manchmal auch mit regionalen Sprachgewohnheiten. In
Cana etwa, einem kleinen südtoskanischen Bergnest, heißen sie "Biondina",
Blondchen – nach der Farbe, die der Fruchtkern beim Rösten annimmt.
Gerade in der Toskana erlebt die Kastanie derzeit eine ungeahnte
Renaissance. Sie erobert sogar feine Restaurants. Die Möglichkeiten ihrer
Zubereitung sind unerschöpflich: Kastaniensuppe, Kastanien mit Pasta, Pasta
aus Kastanienmehl, Kastanienpolenta (möglichst im Kupferkessel angerührt),
Kastanienmarmelade, Kastanieneis. Nachschub für die Küchenchefs gibt es
genug. Ganze Wälder versprechen jeden Oktober reiche Ernte – in den Bergen
der Garfagnana, im Casentino und in der Gegend des Monte Amiata. Das kommt
nicht von ungefähr: Seit Jahrhunderten werden Kastanien hier kultiviert. Was
heute als feine Spezialität auftrumpft, hat – wie so oft in Italien – eine
lange und ganz unspektakuläre Tradition.
"Albero del pane", Brotbaum, wird die Kastanie auch genannt. Die alten
Satzungen der Bergdörfer führen seitenweise Nutzungsrechte,
Erntebestimmungen und Vorschriften zur Pflege der gemeindeeigenen
Pflanzungen auf. Man aß Kastanien roh ("fresca"), geröstet ("castrata"),
auch mit oder ohne Schale gekocht, manchmal unter Zusatz von Fenchel oder
Salbei. Ihre eigentliche Bestimmung aber lag darin, das Mehl für die "polenta
dolce" zu liefern, die süße Polenta. Noch bis ins 20. Jahrhundert hinein
lebten etwa die Dörfer um den Monte Amiata im wesentlichen von den acht
Doppelzentnern Kastanienmehl, die sie pro Familie im Jahresmittel
erwirtschafteten.
Im Gegensatz zu den Früchten freilich fiel das Mehl nicht von den Bäumen.
Seine Herstellung erforderte Geduld und harte Arbeit. Zuerst kamen die
Kastanien in die "seccatoi". Das waren kleine, zweistöckige Steinhäuschen,
die ähnlich wie Räucherkammern funktionierten. Unten schwelte ein Feuer,
oben lagen, auf engmaschigen Holzgittern über einem offenen Balkenboden, die
Kastanien und rösteten. Das ging so einen Monat lang. Während dieser Zeit musste
das Schwelfeuer ständig unterhalten werden. Dann wurden die Früchte
gedroschen, um sie von den Schalen zu befreien. Der Mahlstein besorgte den
Rest.
Jahrhundertelang war die "polenta dolce" in den Bergregionen der Toskana das
Brot der armen Leute. Dazu gab es manchmal Ricotta, seltener Hering oder
Stockfisch – die einzigen Importe, die man sich leistete, wenn die Küste
nicht allzu fern lag. Getreide gedieh auf den kargen Böden kaum. Weizenbrot
war etwas für die Feiertage.
Das alles hat sich gründlich geändert. Je leichter und erschwinglicher es
wurde, Nahrung anderswo zu kaufen, desto mehr geriet die Kastanie aus der
Mode. Plötzlich war sie nicht mehr Lebensgrundlage, sondern symbolisierte
Armut und Plackerei. Sie war das Gegenteil von dem geworden, was man
Fortschritt nannte. Nur ihr Holz weckte noch Interesse, beim Baugewerbe.
Ansonsten ließ man die Kastanienwälder fortan in Ruhe.
Sie sind immer noch da. Ihre gastronomische Wiederentdeckung verdankt sich
nicht zuletzt einem gewachsenen Gesundheitsbewusstsein. Denn Kastanien gelten
nicht nur als schmackhaft, sondern auch als äußerst nährstoffreich. Den
Gipfel der Anerkennung erfuhr die braune Waldfrucht im letzten Jahr im Süden
der Toskana. Dort rief eine "Assoziation für die Wertsteigerung der Kastanie
der Region Monte Amiata" ein Gütesiegel ins Leben, das in Zukunft die
zweifelsfreie Herkunft dreier dort heimischer Kastaniensorten und die
qualitätvolle Verarbeitung der jeweiligen Endprodukte garantieren soll. "IGP"
heißt das Kürzel für diese neue geschützte Herkunftsangabe. Der Volksmund
macht daraus "Kastanien-DOC" – nach dem Vorbild der Weine.
Tatsächlich unterliegt die Kastanie in manchen Gebieten der Toskana einem
ähnlichen Bedeutungswandel, wie ihn der Wein längst hinter sich hat: Das
einstige Grundnahrungsmittel wird zum Imageprodukt. Gerade der Oktober
bietet sich dafür an. Denn Oktober ist Erntezeit, und die wurde schon
gefeiert, als die "polenta dolce" noch keine Spezialität war. Allein um den
Monte Amiata gibt es acht Kastanienfeste in acht verschiedenen Orten. Nicht
ganz zufällig liegt dort das Herz des neuen "Kastanien-DOC"-Landes.
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